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Wêje
Romana "Rojîn, tenê bi zimanê almaniye


"RO JÎN, Sonne des Lebens" Roman























Leseprobe


Die Ausläufer des Taurusgebirges umarmten die Stadt von weitem und bildeten einen großen, flachen Talkessel, in dem sie sich kilometerweit erstreckte, brütend heiß und wüsten­trocken im Sommer und im Winter manchmal frostig.
 
Die leeren Straßen zwischen den Lehmhäusern lagen still in der Mittagshitze, und die flirrende Luft war staubig. Die kleine Stadt wirkte verlassen. Die fernen hohen Berge im Norden waren immer da, ihnen machte die Hitze nichts aus, außer dass sie kahl geworden waren. Als die Sonne sich ver­abschiedete und die Glut allmählich erträglich wurde, kamen die Jungen und Mädchen aus ihren Lehmhäusern heraus, so wie die Bienen aus ihren Körben auf der Suche nach Blü­ten. Die Mädchen trugen bunte Kleider und hatten sich die Haare mit Henna gefärbt, die Jungen nutzten Zuckerwasser als Gel. Unter ihnen war auch Dilo. Etwas lag in der Luft an diesem Tag, wirkte anders als sonst. Wusste er bereits, was er tun würde? War ihm die fundamentale Veränderung schon greifbar, die sein Leben bald für immer verändern würde?
Aber nicht nur die jungen Leute kamen heraus, sondern auch alle anderen, denen die Hitze des Tages zu heftig ge­wesen war. Innerhalb kurzer Zeit verwandelten sich die ver­lassenen Straßen in eine lebendige Oase. Decken und Stühle wurden herausgebracht, Kaffeekannen brodelten, die Jungen sammelten sich zum Fußball, zum Murmeln und zu anderen Spielen. Die Gemüseverkäufer, der alte Schrottsammler und der Eisverkäufer schoben ihre dreirädrigen Karren und prie­sen lauthals ihre Waren an. Der Wagen des Petroleumver­käufers wurde von einem Pferd gezogen. Der Gebetsruf des Mullahs, die Stimmen der Händler, die Gespräche der Alten und das Geschrei der spielenden Kinder vermischten sich zu einer ganz eigenen Komposition, untermalt von der Melodie der Pferde- und Kirchenglocken.
 
Dilo, der gerade sechzehn geworden war, und sein Freund Ferhad putzten sich für den Abend heraus.
„Lass uns heute mal in den christlichen Stadtteil gehen Dilo, vielleicht haben wir da mehr Chancen, ein nettes Mädchen kennenzulernen.“
Dilo drehte sich zu ihm um. „Ferhad, du weißt doch, dass wir für die Christen etwas zurückgeblieben sind, aber für die Dorfleute sind wir Stadtmenschen und modern, lass uns lie­ber nach Helelike gehen“, meinte er.
 
Sie traten auf die Bühne der Straße wie Steinhühner, die zur Balz ihre bunten Farben zur Schau tragen, denn Helelike wartete ja auf sie mit seinen herausgeputzten Mädchen.
„Lass uns zum Brunnen in Helelike gehen, da versammeln sich eine Menge Mädchen“, sagte Dilo.
 
„Ja, gestern hat mir eine zugeblinzelt, ich will gucken, was sie heute macht“, erwiderte Ferhad.
( … )
 
Die Menschen in der Stadt hatten sich nicht verändert, auch die hohen Gebäude waren so, wie sie schon gewesen waren, der Bus, in dem sie sich befanden, hatte seine Farbe nicht gewechselt. Alles war wie vorher, außer den Gefühlen, den Emotionen, die die beiden jungen Menschen nun mit sich schleppten, und den Ängsten, sich aus den Augen zu ver­lieren.
Sie stiegen wieder wie gestern vor dem Hotel aus. Das Un­geheuer wartete vor der Tür unten auf der Straße. Ein Gute-Nacht- und Abschiedsküsschen konnten sie sich nicht mehr geben, denn Abu Hassan verfolgte sie mit seinen Blicken, als sie die Treppe hochgingen. Er schüttelte den Kopf und folgte ihnen. Nicole ging in ihr Zimmer, aber Dilo wurde im Empfangsraum vom Manager angehalten.
„Dieses Hotel hat seine Ehre und ist kein Ort für Prostitu­tion, hier ist kein Rotlichtmilieu für Huren.“
Der Manager war ein älterer Mann um die Fünfzig, mit grauen Haaren und verrauchten Zähnen. Er war Araber aus Deir az Zor am Euphrat, der Stadt, die Israelis und Kur­den zwischen sich aufteilen wollten. Waren das immer noch seine Ängste? Oder hatte er Angst, dass der sympathische Dilo beim Chef beliebter war als er, und dass er eines Tages das Kündigungsschreiben in die Hand gedrückt bekäme und Abu Hassan gleich mit? „Abu Ibrahim, warum sagst du Hu­ren? Sie sind doch eure Gäste.“
„Das spielt keine Rolle. Du bist hierher gekommen, um Zu­hälterei zu betreiben“, erwiderte der alte Manager.
 
Dilo hatte noch nicht viel mit ihm zu tun gehabt, es war viel­leicht seine zweite Begegnung mit ihm, und die grobe Wort­wahl des Managers kam einer außergewöhnlichen Beleidi­gung gleich. Das Wort „Zuhälter“ konnte zu einem Krieg zwischen zwei Völkern und zu einem Blutbad führen, es war eines der übelsten Schimpfwörter überhaupt. Dilos Ehre war bis ins Tiefste verletzt und gleich zweifach, weil er seine Ni­cole als Hure und ihn als Zuhälter beschimpfte.

Ein kurdisches Sprichwort sagt: „Je geduldiger man ist, des­to ehrloser wird man.“
An dieses Sprichwort musste Dilo jetzt denken und es schoss aus ihm heraus. „Zuhälter für wen? Für deine Tochter oder deine Frau?“ Nun waren sie beide verletzt wie zwei Kroko­dile, die ihre scharfen Zähne nicht verstecken können. Vor allem der Manager sah sehr aufgewühlt und aggressiv aus und machte den Eindruck, als ob er eine Bombe auf Dilo werfen wollte. Er sah den Aschenbecher vor sich auf der hohen Theke, nahm ihn und warf ihn mit aller Kraft nach Dilo, der sich akrobatisch umdrehte. Der Aschenbecher traf mit voller Wucht auf die Wand, Putz und Stein splitterten ab.
 
Wie der Krieg der Amerikaner in Vietnam, die jeden Qua­dratmeter vietnamesischen Boden bombardiert hatten, warf der Manager Aschenbecher um Aschenbecher auf Dilo, der sich geschickt aus der Wurflinie drehte, sodass die Aschenbe­cher ihre Spuren auf der Wand hinterließen. Hätten sie Dilo getroffen, hätten sie seine Knochen gebrochen, jetzt trafen ihn nur die äußersten, unerhörtesten Beschimpfungen.
( … )
 
„Um Muhamed, die beiden palästinensischen Gäste haben mich heute Abend zum Essen eingeladen, wie findest du sie?“, fragte Dilo.
„Abu Siad und Nassir?“, vergewisserte sich Um Muhamed.
„Ja, das sind sie, glaube ich“, sagte Dilo.
„Sie sind oft bei uns und sind sehr nett“, sagte Um Muha­med. Diese Worte befreiten Dilo von seinen Ängsten.
 
Dilo fühlte sich, als ob ihm neue Federn wuchsen, sodass er seinem Traum zu fliegen, näher kam. Er zog seinen neu­en Anzug aus dem Superangebot vom Basar an, kämmte sein Haar besonders sorgfältig, verabschiedete sich von Um Muhamed und stieg in das Taxi, das vor der Tür auf der Stra­ße wartete, die beiden Männer saßen schon drin. Der Wagen fuhr aus der Stadt heraus. Nach etwa einer halben Stunde Fahrt durch eine gebirgige Landschaft in frischem Grün hielt das Taxi vor einem Restaurant, das Dilo als eines der teuers­ten in ganz Syrien erschien, den „Wasserfällen“, einem Lokal im Freien, in dem Tische in grünen Nischen standen und in unmittelbarer Nähe das Plätschern von Wasser zu hören war. Die Atmosphäre war fabelhaft, die Gäste waren vornehme Leute, Familien und junge Paare. Die natürliche frische Luft und die leise arabische Musik vervollkommneten dieses grü­ne Paradies, das, von bunten Lichtern angestrahlt, zu einer einzigartigen unbeschädigten Oase wurde.
 
Die drei gingen zu einem schon reservierten Tisch, setzten sich und wurden gleich bedient. Zuerst kamen kleine, leckere Vorspeisen mit drei Flaschen eisgekühltem Bier.
 
„Und jetzt frage ich dich, wie heißt du?“
„Ich heiße Dilo. Und Sie?“
„Ich heiße Abu Siad, du kannst auch das ‚Sie‘ weglassen“, antwortete er.
Dilo fragte auch den Jüngeren nach seinem Namen.
„Ich heiße Nassir“, antwortete er.
„Dilo, man lebt nur einmal und wenn, dann mit Glück und Ehre. Dein Satz im Hotel hat mir sehr gut gefallen“, sagte Abu Siad. Sie gossen Bier in die Gläser.
„Darf ich zuerst fragen, woher du kommst?“, wandte sich Nassir an Dilo.
„Ich komme aus dem Norden des Landes aus Al Kamishly, und ich bin Kurde“, sagte Dilo.
„Kurde, alle Achtung. Die Kurden sind sehr mutig, treu und …“, sagte Abu Siad, aber Dilo unterbrach ihn „… und haben sehr harte Schädel.“
Sie lachten zusammen und ihre Biergläser waren bereit zum Anstoßen. Nassir stand auf, das Bierglas in einer Hand und rief:
„Du bist der Enkel Salah ad Din al Ajubis!“
Sie stießen zusammen an.
„Prost, auf unser Wohl, auf ein einmaliges Leben … auf dieses Paradies, auf den Sieg … auf die Freiheit der Men­schen … der Gerechtigkeit, auf die Befreiung Kurdistans und Palästinas.“
 
Jeder von den Dreien sagte diese Sätze auf seine eigene Art.
Es waren große Begriffe, bedeutsame Worte, für die man hierzulande verhaftet werden konnte. Die Geheimdienstler, die Staatshunde, mussten anscheinend draußen bleiben, vor der Tür an der Leine. Für die Reichen, die sich diesen Ort leisten konnten, gab es keine Kontrolle, sie wurden nicht beobachtet. Ein Reicher war meistens Sklave seines Geldes und gehörte somit auch zu der gehorsamsten Schicht, außer hier an diesem Ort. Hier wurde genossen, gelacht, vor der Alltagsroutine geflüchtet und manchmal auch mehr aus sich heraus gegangen, als es sonst in dieser strengen Gesellschaft erlaubt war. „Jetzt bin ich aber dran, ich möchte euch gern besser kennenlernen“, sagte er und blickte zu Nassir.
 
„Abu Siad kann uns dir am besten vorstellen“, sagte Nassir ebenfalls ernsthaft.
„Wir sind beide Palästinenser und kommen aus Beirut, wir sind auch beide bei der PLO, sind hier zu Besuch und ma­chen etwas Urlaub“, sagte Abu Siad.
Dilo war stolz, dass er die Gelegenheit hatte, mit diesen Op­ferwilligen zu sprechen und sogar einen zu trinken. Er freute sich über diese Antwort und blieb still.
 
Die Bedienung brachte das üppige Essen: drei Sorten Fleisch, gebraten, gegrillt und das rohe Kibbeh - cremig ver­mischt mit feinem Bulgur - und so viele Kleinigkeiten, dass der große Tisch voll war, dazu kam noch ein Liter Whisky mit Eis auf die Tafel.
 
Dilo hatte so ein Bild noch nie im Leben gesehen, diese Gefühle wollte er aber nicht zeigen und sich nicht damit er­niedrigen und klein machen. Deshalb tat er so, als ob er fast jeden Tag so aß.
 
„Wir kommen auf deine Frage im Hotel zurück, ob wir eine alternative Arbeit für dich haben“, sagte Abu Siad.
„Ja, genau, was habt ihr mir vorzuschlagen?“, fragte Dilo.
„Willst du zur Revolution gehen?“, fragte Nassir.
„Revolution? Welche Revolution?“ Dilo war verwundert.
„Die palästinensische Revolution natürlich, was sonst“, rief Abu Siad.
„Wieso fangt ihr nicht an zu essen, Dilo, bediene dich bit­te. Zum Reden gibt’s genug Zeit, zum Essen aber nicht, das Essen wird kalt“, sagte Abu Siad und zeigte mit seiner Hand auf die vielseitigen Gerichte.
( … )

„Sag mal, mein Sohn, was weißt du über ‚Farman‘?“
 
Dilo hatte diese Frage schon erwartet. Mit diesem Wort, dem „Vernichtungsbefehl“, hatte das Osmanische Reich seine Soldaten auf die Armenier gehetzt. An dem Völker­mord waren auch Kurden beteiligt gewesen. Dilo atmete tief durch, dann wandte er sich dem Paar zu.

„Wissen Sie, ich bin noch jung, ich werde Ihnen eine Vari­ante der jungen Generation erzählen, die auch ich vertrete. Ich werde die Wahrheit sagen, wenn Sie mich auch nach Ost-Beirut zum Schlachten bringen werden, ich werde nieman­dem Honig ums Maul schmieren.“
Der Fahrer schaute Dilo erstaunt an, die alte Dame sagte: „Nein, mein Sohn, wir werden dir auf keinen Fall etwas an­tun, es ist lange her und du kannst nichts dafür.“
 
Dilo war erleichtert. „Kennen Sie die Geschichte von dem Löwen und den zwei Steinböcken?“
„Nein, leider nicht“, erwiderte der alte Mann gespannt.
„Ich kenne sie von meinem Vater, ich werde sie Ihnen er­zählen.“ Dilo hielt kurz inne, um sich zu konzentrieren, dann begann er:
„Es war einmal ein hungriger Löwe, der bezeichnete jeden Ort, den er betrat, als sein Reich.“
Der weiße Mercedes fuhr wie ein Monster in die Berge hinein.
 
„Er ging in ein steiniges Gebirge und brummte herum und sagte, dass dies sein eigenes Reich sei. Hinter einem großen Felsen kamen zwei Steinböcke mit großen Hörnern hervor, um den Löwen herauszufordern, um ihm zu sagen, dass es nicht wahr sei, dass dieses Gebiet sein Reich sei und dass es ihr Gebiet sei und der Löwe weggehen müsse.“
 
Das Paar hörte aufmerksam zu, der Fahrer konzentrierte sich still auf die anstrengende Fahrt.
„Als die Steinböcke sich dem hungrigen Löwen näherten, um gemeinsam gegen ihn zu kämpfen, blieb ihm nichts an­deres übrig, als dem Kampf entgegen zu sehen. Der Löwe hatte aber Angst vor den beiden Steinböcken und er muss­te sich etwas einfallen lassen. Die Steinböcke unterschieden sich in ihrem Aussehen, der eine war etwas dunkler als der andere. Sie kamen ihm nah wie ein Wolf, der eine Schafherde angreift und sie waren entschlossen, den Löwen zu besiegen. Es kam zum Kampf. In einer Kampfpause näherte sich der Löwe dem helleren Steinbock und sagte: ‚Schau mich mal an, ich bin so hell und sauber wie du, warum schlägst du mich, du vereinigst dich mit dem dunklen Steinbock gegen mich.‘ Der hellere Steinbock sagte: ‚Das stimmt, was der Löwe sagt, dieser dunkle Bock hat mir noch nie gefallen.‘ Er drehte sich zu dem dunkleren Bock um und kämpfte gegen ihn. Der Löwe zog sich zurück und sah nur noch zu, wie die beiden Steinböcke gegeneinander kämpften und bereitete sich auf die nächste fertige Mahlzeit vor.“
 
Der Armenier bot Dilo einen Zigarillo an.
„Nein danke, ich rauche nicht.“
Der Alte zündete seinen Zigarillo an und Dilo fuhr fort zu erzählen.
„Der hellere Bock besiegte den dunkleren und tötete ihn. Voller Stolz kam er zum Löwen und wünschte sich Frieden mit ihm. Der Löwe aber, der auf diese Gelegenheit gewar­tet hatte, näherte sich dem Steinbock und sagte: ‚Vor einem Moment warst du gegen mich, weil ihr beide stark wart, nun ist dein Freund weg und du bist allein, wo willst du hin vor meinen Krallen?‘ Er griff den Bock an und erlegte ihn.“
 
Alle schwiegen, nachdem Dilo seine Geschichte beendet hatte, und er wusste nicht, ob sie eingeschlafen waren oder gleich zum Angriff übergehen würden. Erleichtert atmete er auf, als der Mann sagte: „Deine Geschichte ist sehr schön. Wie heißt du?“
 
„Ich heiße Dilo.“
„Dilo, deine Geschichte ist eine der Geschichten an sich, erzähl mal bitte weiter.“
 
Das Auto hatte sich sehr langsam bis auf den Pass des Ber­ges gequält. Die Luft war kälter geworden. Dilo drehte sich zu dem Armenier um.
„Die Geschichte ist eigentlich zu Ende, aber ich komme auf Ihre Frage von vorhin zurück. Der Löwe ist das Osmanische Reich, der hellere Bock ist das kurdische Volk und der dunk­lere ist das armenische Volk. Die Türken wollten das ganze Gebiet in Anspruch nehmen ohne Rücksicht auf die dort lebenden Einwohner.“
( … )
In Al Damur waren die Nächte noch schwärzer geworden. Für den nächsten Tag wurde alles für den großen Auftritt von Arafat vorbereitet. Dilo hatte Arafat noch nie gesehen, er kannte ihn nur von Bildern in Zeitschriften. Morgen war es soweit, dass er diese Begegnung erleben würde, bei der sie ihre beste Leistung erbringen mussten. Drei lange Monate hatten sie sich auf diesen Tag vorbereitet.
 
Die Soldaten wurden von ihrem Chef aufgefordert, früh schlafen zu gehen, damit sie am nächsten Morgen fit waren, um ihre Aufgabe, ihren Ausbildungsabschluss, gut durchzu­führen. Dilo war aufgewühlt und hin- und hergerissen zwi­schen Freude und Trauer. Schließlich fand er vor der morgi­gen Begegnung doch noch zur Ruhe und schlief ein.
 
Am nächsten Morgen rief ihr Leiter wie üblich, aber später als sonst: „Aufstehen!“
Dilos Augen erblickten das leere Bett seines Freundes Dja­mal und er landete wieder in der Realität. Mit gemischten Gefühlen ging er aus dem Raum und reihte sich ein. Abu Elfida stellte sich vor sie.
 
„Heute ist euer Tag, heute müsst ihr alles geben, was ihr habt, er muss einen guten Eindruck von euch bekommen, ihr sollt eure Tapferkeit zum Ausdruck bringen. Wir sind heute mit der dreimonatigen Ausbildung fertig. Das feiern wir.“
 
Alle Soldaten waren sehr gespannt, die meisten von ihnen hatten Arafat noch nie gesehen und für sie alle war es der größte Auftritt, den sie je hatten. Sie wurden aufgefordert, sich in Zweierreihen aufzustellen, dann bekamen sie den Be­fehl, zu dem anderen Übungsplatz im Ort in der Nähe der Hauptstraße nach Beirut zu laufen. Auf ihrem Weg durch den Ort riefen sie Parolen, heizten sich ein, bis sie zu dem neuen Übungsplatz gelangten, einer großen Fläche, die von einer mit Beton gefüllten Öltanks improvisierten Mauer, mit Stacheldraht bestückt, umgeben war. Auf der linken Seite des Platzes war ein Tisch mit Stühlen aufgestellt. Die Sonne war sehr heiß, sie stand hoch am Himmel, die Sicht zum Meer war klar.
 
Abu Elfida befahl ihnen: „Zieht eure Hemden aus, damit sie euch nicht an eurer Vorstellung hindern.“
Alle zogen ihre Hemden aus, sie waren jetzt nur noch mit der Übungshose und Stiefeln bekleidet und hatten ihre Ka­laschnikow geschultert. Sie standen in der prallen Sonne, Dilo schwitzte sehr. Ein Soldat brachte eisgekühltes Wasser in einem Kanister. Nachdem sie daraus getrunken hatten, stellten sie sich wieder an ihren Platz.
 
Auf der Straße hörte man das Geräusch vieler heranfahrender Wagen und gepanzerte Mercedes-Limousinen hielten vor dem Eingang des Übungsplatzes.
 
An der Straße hatten sich viele Schaulustige eingefunden, Frauen, Kinder und alte Männer, die Arafat zujubelten, der von seinen Leibwächtern und von Journalisten umringt war. Er kam auf den Platz und stellte sich vor die Soldaten, die Leibwächter wichen nicht von seiner Seite. Abu Elfida be­fahl: „Begrüßung!“
 
Alle standen stramm und hoben das Gewehr vor sich. Arafat begrüßte die Mannschaft militärisch und ging dann zu dem Platz, der für ihn reserviert war. Dilo fühlte sich stark und selbstbewusst wie ein Tiger, als er Arafat sah. Die Show konnte beginnen.





 




Berzan Kejo: Ro Jin – Sonne des Lebens


Mit „Ro Jin – Sonne des Lebens“ liefert der syrische Künstler Berzan Kejo sein Romandebüt ab (erschienen im Sujet Verlag, Bremen 2012). Wie sein Protagonist Dilo wurde auch Kejo in Qamischlo geboren und machte sich in jungen Jahren auf den Weg nach Europa – die autobiographischen Züge sind unübersehbar. Dabei zeichnet Kejo ein vielseitiges Bild der Situation der Kurden im Land sowie der bis heute anhaltenden politisch-religiös motivierten Konflikte in der Region.
Dilo ist sechzehn Jahre alt, als er beschließt, seine Heimat Qamischlo hinter sich zu lassen. Er ist Kurde und leidet daher unter Unterdrückung und Rechtlosigkeit. 1962 entzog die syrische Regierung über 120000 Kurden die Staatsangehörigkeit und degradierte sie zu Menschen zweiter Klasse. Zu Hause in Qamischlo findet Dilo keine Arbeit. Mit seinem Freund Ferhad lungert er auf der Straße herum, stiehlt Autofahrern Musikkassetten um sie auf dem Schwarzmarkt zu verhökern. Während Ferhad mit Mädchen flirtet, leidet Dilo unter dem zermürbenden Konflikt mit seinem autoritären Vater. Er setzt sich in den Kopf, nach Paris auszuwandern, wo in seiner Vorstellung
paradiesische Verhältnisse herrschen. Ohne Abschied setzt er sich eines morgens in den Überlandbus nach Homs. Sein Geld ist knapp. Er plant, bis nach Aleppo zu fahren und sich dort einen Job zu suchen, um das Geld für die Reise nach Europa zusammenzusparen. Immer wieder wird er fortgejagt, wenn seine Arbeitgeber erfahren, dass er Kurde ist, trifft aber auch auf hilfsbereite Menschen, die Hoffnung in ihm aufkeimen lassen. Doch dann wird er zum Opfer der eigenen Naivität. In einem Hotel, in dem er für einen Hungerlohn die Zimmer putzt lernt er die Palästinenser Abu Siad und Nassir kennen, die ihn überreden, sich der PLO im Libanon anzuschließen und gegen die israelische Armee zu kämpfen. Zum einen wittert er seine Chance, mit ihrer Hilfe über die Grenze zu kommen, was mit seinem Staatenlosenausweis nicht ohne Weiteres möglich wäre, zum anderen erinnert er sich an die antiisraelischen Propagandafilme, die er in der Schule gesehen hatte.
In den Bergen nahe Beirut haben sich zahlreiche politische Gruppierungen in Stellung gebracht, die alle ihre ganz eigenen Ziele und Ideologien verfolgen, und die sich untereinander spinnefeind sind. In einem Lager der Fatah lässt sich Dilo zum Soldat ausbilden, und als er mit seinen Kameraden einem israelischen Luftangriff trotzt, nährt das seine Überzeugung, das Richtige zu tun. Das Gemeinschaftsgefühl in der Gruppe und der gemeinsame Feind geben ihm das Gefühl, an etwas Bedeutendem beteiligt zu sein, und zum ersten Mal im Leben erhält er Anerkennung nicht trotz sondern aufgrund seiner kurdischen Abstammung. Doch als ihm erste Zweifel kommen ist es längst zu spät. Die Leitung seiner Gruppe besteht aus ideologisierten Fanatikern, die keinen Widerspruch dulden und schon den kleinsten Fehler brutal vergelten. Erst als er in einer düsteren, modrigen Gefängniszelle sitzt wird ihm klar, dass die Leute, denen er vertraut hat, keinen Deut besser sind als die Feinde, die er aus der Propaganda kennt…
Berzan Kejos Roman ist ein Panoptikum der jüngeren Geschichte des Nahostkonfliktes, er bringt Licht in die undurchsichtigen Verstrickungen und Interessenskonflikte zwischen politischen und religiösen Ideologien, zeichnet schonungslos tragische menschliche Schicksale nach und demonstriert die ganze Absurdität und Sinnlosigkeit eines Kampfes, in dem es nur Verlierer geben kann. (gw)


Klappentex:


 
Das Buch:

Dilo ist 16 Jahre alt, als er seine Heimatstadt Qamischlo verlässt. Er ist auf der Suche nach einem besseren Leben, flieht aus der Strenge seines Elternhauses, flieht vor den Anfeindungen und Diskriminierungen, die er als Kurde in Syrien erleben muss. Sein Ziel ist Paris, für ihn das Synonym für innere und äußere Freiheit. Jung wie er ist, ahnt er nicht im Entferntesten, was ihm bevorsteht, obwohl er mit der Geschichte der Kurden und ihrer immerwährenden Bedrängnis aufgewachsen ist.

Der Weg ist weit, es erwarten Dilo Versuchungen und Anfeindungen, Freundschaft, Verrat und Gewalt, Liebe und neue Fragen.
Eines verliert er auf  seinem Weg niemals: seinen Wunsch nach einem freien, selbstbestimmten Leben unter Gleichen, ohne Vorurteile und Repression.

„Wir kommen auf deine Frage im Hotel zurück, ob wir eine alternative Arbeit für dich haben“, sagte Abu Siad.
„Ja, genau, was habt ihr mir vorzuschlagen?“, fragte Dilo.
„Willst du zur Revolution gehen?“, fragte Nassir.
„Revolution? Welche Revolution?“ Dilo war verwundert.
„Die palästinensische Revolution natürlich, was sonst“, rief Abu Siad.
„Wieso fangt ihr nicht an zu essen, Dilo, bediene dich bitte. Zum Reden gibt’s genug Zeit, zum Essen aber nicht, das Essen wird kalt“, sagte Abu Siad und zeigte mit seiner Hand auf die vielseitigen Gerichte.











Der Autor

Kejo, geboren 1960 in Al Kamishly, Syrien, als Sohn kurdischer Eltern, flüchtete 1985 in die Bundesrepublik Deutschland, wurde als politischer Flüchtling anerkannt nachdem er vier Jahre in einem Auffanglager für ausländische Flüchtlinge zubringen musste.
Er ist Maler, Bildhauer, Designer und Filmemacher und lebt in Deutschland. Eine halbe Stunde Sonne ist sein erster Roman. Er trägt autobiografische Züge.

RO JÎN, Sonne des Lebens

Ein spannender Roman, der uns in den Nahen Osten – nach Syrien und in den Libanon – Ende der 1970er Jahre führt. In ein Leben, das wir meist nur aus den Nachrichten kennen, und über dessen Innenseite wir nichts wissen. Der Autor verwebt mit einer mächtigen Bildersprache die ganz persönliche  Seite mit den politischen Entwicklungen, Gefühle mit Politik ohne jemals in Banalitäten abzugleiten.
















Syrien: Kurdische Fluchtgeschichte als Beitrag zum Volksaufstand

2. August 2016 von Sabine Adatepe

„Es war einmal ein hungriger Löwe, der bezeichnete jeden Ort, den er betrat, als sein Reich …“ Mit leiser Stimme, fast schüchtern liest der syrisch-kurdisch-deutsche Autor Berzan Kejo am 21. Juli 2016 in der Hamburger Werkstatt3 aus seinem autobiographischen Roman Ro Jîn – Sonne des Lebens. Kejo wirkt älter als auf dem Autorenfoto, enttäuschter vielleicht, sicher desillusionierter. Das Buch sei sein „Beitrag zum syrischen Volksaufstand als staatenloser Syrer aus dem Ausland“, betont Kejo im anschließenden Podiumsgespräch. Er lässt keinen Zweifel daran, wie sehr er auch nach 30 Jahren Exil mit seinem Heimatland mitfühlt und mitleidet, wie frustriert aber auch er über die Jahre als Flüchtling in Deutschland ist. Im Gespräch mit seinem Verleger Madjid Mohit und der syrischen Autorin Roza Yassin Hassan, die, seit 2012 in Deutschland, ihr Buch Wächter der Lüfte (Alawi-Verlag 2013) vorstellte, klingt Kejo gar ein wenig neidisch auf die scheinbar privilegierte Behandlung der aktuell ankommenden syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge: „Manchmal denke ich, ich wäre gern heute mit der Fluchtwelle über die Balkanroute gekommen, weil es heute Angebote wie die Integrationskurse gibt, solche Chancen hatten wir damals nicht.“
Berzan Kejo, Allround-Künstler, Maler, Bildhauer, Designer, Filmemacher, gelangte nach achtjähriger Flucht-Odyssee, Anfang 1986 nach Deutschland, seine Fluchtgeschichte aus den 70er/80er Jahren schrieb er erst jetzt auf, wohlgemerkt auf Deutsch, angelegt auf eine Trilogie von drei Bänden, Ro Jîn – Sonne des Lebens, erschienen 2012 im engagierten Bremer Sujet-Verlag, ist Band eins. Wie sein Held Dilo stammt er aus dem syrisch-kurdischen Qamischlo, arabisch Al Kamishly.
Als Dilos Vater den Sohn lieber mit dem älteren Bruder zur Arbeit schickt, statt ihn weiter zur Schule gehen zu lassen, beschließt der Junge, seinem Traum zu folgen: Paris, Freiheit, Selbstverwirklichung! In Ro Jîn kommt er über Aleppo und Damaskus bis Beirut. Der erste Job, die erste schwärmerische Liebe, der erste (gekaufte) Sex, die erste Zigarette, durch die Lebensumstände rasch wechselnde Freundschaften, Gelegenheitsjobs, eine militärische Grundausbildung bei der Fatah im Libanon, so zieht sich die Geschichte auf der Folie des Dramas, als staatenloser Kurde nicht einmal im eigenen Land Bürgerrechte zu haben, dahin. Ohne Pass ist kein legaler Job, kein Hotelzimmer zu bekommen, keine Ausreise möglich. Die beiden Pole der Reise, denn Dilos Migrationsgeschichte ist vor allem eine Reise: einer besseren Zukunft, einem Traum und auch dem Erwachsenwerden entgegen, bestehen in der starken Verbundenheit zum kurdischen Volk einerseits und seinem ausgeprägten Freiheits- und Schaffensdrang andererseits. Es sind fast immer Kurden, die dem Jungen weiterhelfen; Angehörigen anderer Ethnien und Religionen begegnet er mit Skepsis, oft mit handfesten Vorurteilen, sieht sich als „Opfer arabischer Chauvinisten“. Von Palästinensern lässt er sich anwerben und aus Syrien hinaushelfen, weil er in ihnen Gleichgesinnte erkennt: „Was die israelische Regierung mit den Palästinensern macht, macht das syrische Regime mit uns Kurden.“
Kejos Held bedient häufig Klischees, derer sich der Autor gar nicht bewusst zu sein scheint: Selbstverständlich liebt er die Mutter über alles und die Heimatstadt ist der schönste Ort der Welt. „Warum kommt man auf die Welt? Um gequält zu werden?“, fragt er sich suggestiv. Selbst als er seinen Job im Hotel verliert, zieht er lieber das Klischee des überall vertriebenen, unterdrückten Opfers heran, statt sich eigene Fehler einzugestehen: Welches Hotel würde dulden, dass ein Angestellter etwas mit einem Gast anfängt? In Damaskus holt ihn nachts die Polizei aus einem Hotel, das ihn aufnahm, obwohl er keinen Pass vorlegen konnte, er wird misshandelt, bis er die Beamten besticht, so sind auch Willkür und Korruption staatlicher Kräfte thematisiert. „Diese Erde [Syrien] ist die sauberste, reine Erde der Welt, aber die Menschen, die darauf leben, sind der letzte Dreck.“
Lange muss Dilo ohne echte Freunde auskommen, da bleiben ihm nur Papier und Stift und er malt sich Frust und Hoffnungen von der Seele. Immer wieder schmerzt ihn Routine, in Jobs, bei der Miliz. „Er wollte alles, nur keine Wiederholungen, keinen starren Alltag, keine Isolation und nichts, was ihn blockierte“, denn er ist von seiner Kreativität und Schöpfungskraft überzeugt.
Zunehmende Selbstmordattentate geben ihm zu denken. „Man lebt doch nur einmal und stirbt dann, die Spuren bleiben, sie sind entweder gut und ewig oder schlecht und kurz. (…) Einmal mit Ehre sterben ist besser, als tausendmal ohne Anerkennung zu leben.“ Er zweifelt allerdings selbst an dieser Überzeugung. Nachdem ihn unvermutet die Familie findet und er seine Mutter wiedersieht, beschließt er, die palästinensische Einheit zu verlassen, wird nun aber selbst für einen Spion gehalten, schwer gefoltert und in eine Kellerzelle geworfen. Es dauert Monate, bis er gerettet wird. Ohne Groll gegen die Palästinenser – „Es geht ihnen noch schlechter als uns Kurden.“ – folgt er Ende März 1979 der Mutter: in einen neuen Lebensabschnitt und damit in den nächsten Band.
Wer keine große Literatur erwartet, sondern eine persönliche Fluchtgeschichteangereichert mit Lokalkolorid im Plauderstil, manchmal entwaffnend naiv, für den ist Ro Jîn lohnende Lektüre, zumal auch eine Reihe politischer und kultureller Hintergründe vermittelt werden.
In der Anekdote, die Dilo zu seiner Rechtfertigung einem älteren armenischen Ehepaar erzählt, das ihn als Anhalter mitnimmt, übertölpelt der Löwe, symbolisch für das osmanische Reich, die beiden Steinböcke, die Dilo als Vertreter der Kurden und der Armenier sieht, und verspeist am Ende beide. „Ich bin ein Sensibelchen, für mich gab es nur die beiden Möglichkeiten Gewalt [i.e. bewaffneter Kampf] oder Flucht“, erklärt Kejo nach der Lesung in Hamburg und unterstreicht, er fühle sich als Deutscher, Syrer und Kurde. Während die Mitstreiterin auf dem Podium, Rosa Yassin Hassan, die Erfahrung gemacht hat, Inhalte ließen sich über Literatur besser transportieren, da sich die meisten Leute in Deutschland nicht für Politik interessierten bzw. sich im Wirrwarr der Meinungen nicht zurechtfänden, beklagt Kejo, in Deutschland werde politische Kunst „zensiert“. Er könne aber sein Leben nicht von Politik trennen. So ist seine autobiographische Erzählung Ro Jîn – Sonne des Lebens denn auch ein zutiefst politisches Buch.
Berzan Kejo: Ro Jîn – Sonne des Lebens. Sujet Verlag: Bremen 2012.


















Radio Bremen 2

Gespräch mit dem syrischen Autor Berzan Kejo [9:59]

Der 1960 in Syrien geborene Berzan Kejo ist ein echtes Multitalent – als Maler, Bildhauer, Mediengestalter, Filmemacher und Buchautor. Der Sohn kurdischer Eltern hat schon lange vor der großen aktuellen Fluchtbewegung seine Heimat verlassen und ist bereits vor 30 Jahren wegen der Unterdrückung der Kurden in Syrien nach Deutschland gekommen. Im Bremer Sujet Verlag ist sein autobiografischer Roman „Ro Jin – Sonne des Lebens“ erschienen. Christine Gorny hat ihn danach befragt, wie er die dramatischen Fluchtbewegungen von heute wahrnimmt und inwieweit bei ihm wieder alte Wunden aufbrechen.








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